|||| Arianna Arisi Rota: Frieden

9,80 

Wie entsteht Frieden? Was macht ihn möglich – und was lässt ihn scheitern? Das Buch der Diplomatiehistorikerin Arianna Arisi Rota verbindet historische Tiefenschärfe mit aktueller Analyse und bietet auf diese Weise eine fundierte und zugleich zugängliche Einführung in  die Dynamik von Friedensprozessen.

ISBN: 978-3-9824105-5-5

96 Seiten, Format: 21 cm x 10,8 cm x 0,9 cm, 122 g

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Artikelnummer: 978-3-9824105-5-5 Kategorie:

Beschreibung

Das Buch: Frieden

Frieden: Ein missbrauchtes und abgenutztes Schlagwort, oft verharmlosend oder tröstlich gebraucht, jeden Tag beschworen und jeden Tag gebrochen. Weshalb spricht man, um den Frieden zu definieren, meist von der Abwesenheit oder Beendigung des Krieges? Als echte Herausforderung des Denkens und Verhaltens ist der Frieden – der nicht mit Pazifismus gleichzusetzen ist – ein vielseitiges Gebilde, das Theoretiker und Praktiker auf der internationalen Bühne immer wieder aufs Neue beschäftigt. Heute, im dritten Jahrtausend, desorientiert und umgeben von vielen traditionellen und nicht-traditionellen Kriegen, kann es immer noch nützlich sein, sich an den Gedanken zu halten, dass Frieden zuerst gedacht und dann gemacht wird. Dieses Buch begleitet seine Leser hinter die Kulissen dieses Prozesses und lässt sie – auch durch den Beitrag von Frauen – den Frieden neu entdecken, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen verpassten Chancen, Visionen und Lehren aus der Realität.

Die Autorin: Arianna Arisi Rota

Arianna Arisi Rota lehrt Geschichte der Revolutionen des Mittelmeerraums im 19. Jahrhundert und Diplomatiegeschichte an der Universität von Pavia. Zu ihren neuesten Veröffentlichungen gehören Risorgimento. Un viaggio politico e sentimentale (2019) und Profughi (2023), beide erschienen bei Il Mulino (Bologna).

Leseprobe: »Es gibt keine Wunder« (Erstes Kapitel)

First of all we conceived of flying, then we flew.

John Lennon, 1980

Ein unbequemes Wort

Am 11. November 1918 bemerkte ein junger Diplomat, der sich im Keller des Foreign Office über seine Akten beugte, einen außergewöhnlichen Tumult auf der Straße. Er stieg die Treppe hinauf, öffnete ein Fenster und sah, wie Premierminister Lloyd George der Menge verkündete, dass an diesem Morgen um 11 Uhr der Krieg zu Ende gehen würde: »Auf diese Weise erfuhr ich von der Ankunft des Friedens.«1 Fast genau zwanzig Jahre später, am 30. September 1938, verkündete ein anderer Premierminister auf der Schwelle von Downing Street Nr. 10, dass er aus Deutschland einen ehrenvollen Frieden mitgebracht habe, einen »Frieden für unsere Zeit«. Und er schloss mit der Aufforderung an alle, nach Hause zu gehen und friedlich zu schlafen.2 Wir wissen, wie es ausgehen sollte.

Die Erinnerung des jungen Diplomaten Harold Nicolson und die Worte des britischen Premierministers Neville Chamberlain sind zwei Fragmente, die uns die anhaltende Komplexität des Wortes ›Frieden‹ vermitteln, die sowohl emotional als auch lexikalisch ist – und lexikalisch, weil emotional. Ein Schlagwort im Singular, passend für alle Jahreszeiten, tröstlich, weil selbsterklärend und selbsterfüllend, ist es in Wirklichkeit tückisch und sogar paradox, vielschichtig und schwer fassbar – bis hin zu dem Punkt, dass man, um es festzunageln, der Einstellung der Feindseligkeiten – einem Waffenstillstand, wie dem von 1918 – oder der Abwesenheit von Krieg den Namen ›Frieden‹ gibt, und dass man ihm Spezifizierungen und Adjektive beifügt, als könne das Wort allein sich nicht von einem konkreten eigenen Leben, von einer absoluten Definition nähren.3 Immerwährend. Ewig. Stabil, dauerhaft, gerecht, wahrhaftig, geteilt, nachhaltig… Man könnte so fortfahren und dabei die unterschiedlichsten Quellen heranziehen. Im Grunde haben die Anstrengungen, die im Laufe der Jahrhunderte und in unserer Zeit der Konzeptualisierung und Semantik des Krieges vorbehalten waren, den Frieden im Bereich des Offensichtlichen belassen und damit seine geringere sprachliche Attraktivität und, alles in allem, seine geringere Eignung zum medialen Spektakel offengelegt.

Doch Frieden als sozialer Frieden, aber vor allem als Frieden zwischen den Nationen ist seit langem ein mächtiger kultureller Mythos und ein Ziel des Westens, desselben Westens, der, wie Arnold Toynbee schrieb, die Welt verwundet hat. Dieses Vorhaben hat eine unauslöschliche Spannung erzeugt und die Energien und Visionen von Männern und Frauen in Anspruch genommen. Es hat Imaginarien erzeugt. Imagine, sang nicht zufällig John Lennon. Oder Architekturen, wie sie zu verschiedenen geschichtlichen Zeiten von denen ausgearbeitet wurden, die den Frieden in einer Idee einzufangen versuchten, auch wenn diese »gewiss unausführbar« sein sollte (wie Kant 1795 über seinen Ewigen Frieden sagte, dessen erste Auflage von zweitausend Exemplaren in Rekordzeit ausverkauft war),4 oder in einem operativen System von Garantien, oder sogar, als extrema ratio, in der Ächtung des Krieges: ein kühnes Projekt, das unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten aufkeimte, um über die Logik des Völkerbunds hinauszugehen und das Problem sozusagen an der Wurzel zu packen.5 Wir wissen, wie es ausgehen sollte.

Der Fotograf Oliviero Toscani, jemand, der sich mit Kommunikation auskennt, hat kürzlich in einem Interview zum Ausdruck gebracht, was viele denken, aber nur wenige sagen: »Ich würde gerne alle wichtigen Budgets der großen Unternehmen haben und sie für eine Kampagne vereinen, die sich auf den Frieden konzentriert. Wir wissen nicht wirklich, was das ist, aber es ist dringend notwendig.«6 Wir wissen nicht wirklich, was das ist… »Frieden zu fotografieren ist viel schwieriger als Konflikte zu fotografieren«, räumte der Fotojournalist Hugh Kinsella Cunningham ein, der den Sony World Photography Award 2023 für seine Bilder von Friedens­stifterinnen in der Demokratischen Republik Kongo gewann, die seit Jahrzehnten Schauplatz eines schleichenden Krieges ist, der immer wieder zu Eskalationen und humanitären Krisen führt.7

Frieden braucht Zeit. Frieden ›bricht nicht aus‹. Krieg schon.

Eine Umfrage unter Friedenspraktikern – heute bezeichnet ›Frieden‹ auch einen Beruf – hat mindestens fünf verschiedene Interpretationen unterschieden: Frieden als persönliche Anstrengung, als universelles Ideal, als Freiheit von Angst, als Prozess und als politische Aktivität.8 Im dichten Gedränge des akademischen Diskurses über den Frieden wurde sogar eine in siebzehn Stufen unterteilte Messskala vorgeschlagen, mit den entgegengesetzten Extremen einer Haltung der offenen Gegnerschaft und einer der offenen Zusammenarbeit – ein Symptom für die Unzufriedenheit mit der Vorherrschaft von reduzierenden und vereinfachenden Zuschreibungen, die dann in den gewöhnlichen Sinn des Wortes einfließen. Als Alternative zu Schwarz/Weiß-Situationen scheint Frieden daher besser durch ein Kontinuum dargestellt zu werden, durch ein artikuliertes Spektrum von Situationen, die differenzierte Quantitäten und Qualitäten von Frieden enthalten.9

Bezogen auf die individuelle oder die institutionelle Dimension, oder auf beide, innerhalb oder außerhalb des westlichen Kontextes, bestätigt das Wort letztlich seine Vielfältigkeit, bis zu dem Punkt, an dem Theoretiker und internationale Organisationen an der Definition eines hybriden Friedens festhalten, der durch Interventionen vor Ort, in Kontexten, in denen der Konflikt noch andauern kann, realisiert werden kann. Eine Dosis Frieden zusammen mit einer Dosis Konflikt? Frieden anstelle von Frieden?

Wenn man von der Theorie zur Praxis hinabsteigt, werden die Gegensätze überwunden, und man kann auch auf eine Mischung des Alltagslebens stoßen, die es nicht erlaubt, bei den Akteuren und Handlungen eine klare Trennung zwischen der lokalen und der internationalen Dimension vorzunehmen, und in der eine Vielzahl von kleinen friedensstiftenden Maßnahmen mit einer immer noch latenten Konfliktualität koexistieren kann.10 In einer zunehmend verflochtenen und fließenden Welt, in der der Begriff ›Komplexität‹ eine bequeme Zuflucht bietet, und in der die Grenze zwischen Friedens- und Kriegssituationen immer unschärfer wird, gibt es auch einen offiziellen Friedensmesser, den Global Peace Index, der für das Jahr 2023 eine Verschlechterung um 5% im Vergleich zu 2008 feststellt.11 Um den Frieden zu messen, misst der Jahresbericht jedoch letztlich Krieg und Gewalt und beschreibt nur im fünften Abschnitt die Entwicklung von Indikatoren für den ›positiven Frieden‹ – die Förderung von Bedingungen des Wohlstands und der Gerechtigkeit für alle –, ein Konzept, das vor sechzig Jahren von dem norwegischen Soziologen Johan Galtung im Gegensatz zum Konzept des ›negativen Friedens‹ – der Abwesenheit von Krieg – eingeführt wurde. Was jedoch nicht immer bedacht wird, ist, dass Frieden nach Galtung in erster Linie eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Parteien ist. Er gehört zu der Beziehung, nicht zu den Parteien.

Nun denn. Versuchen wir, von hier auszugehen. Im Leben des Einzelnen wie im Leben von Gemeinschaften und Staaten erfordert das Wort ›Frieden‹ einen gedanklichen Sprung, die Fähigkeit, sozusagen aus sich selbst herauszutreten und sich in einen Raum zu wagen, den man mit dem anderen teilt, fast nie zu gleichen Teilen. In Wirklichkeit ist ›Frieden‹ also ein unbequemes Wort. Ihn zu denken, bedeutet, das in seiner Schärfe bequeme Schwarz/Weiß aufzugeben und sich in die Grauzone des Möglichen zu begeben, wo sich Verfehlungen und Rechtfertigungen zu einem einzigen zähflüssigen Brei vermischen. Es bedeutet, das Land des Kompromisses aufzusuchen, jenen middle ground, auf dem man lernen muss, zu relativieren und bereit zu sein, nicht übermäßig hoch zu gewinnen, den Feind oder den Gegner, ob alt oder neu, nicht zu demütigen. Jene mentalen Asymmetrien zu überwinden, die, vereint mit den Asymmetrien der Konflikte selbst, die Möglichkeit, dass das Wort ›Frieden‹ Wirklichkeit wird und das Reich des Ideals für das der Realität verlässt, wieder zurückwerfen und in den Abgrund stürzen lassen.

Auf der Suche nach dem richtigen Maß

»Es gibt keine Wunder… Was wir brauchen, ist, Wege zu finden, um das, was für Sie jetzt inakzeptabel ist, in eine Situation zu verwandeln, mit der Sie leben können.«12 Das bekamen die Außenminister und Botschafter der arabischen Länder zu hören, die sich am 26. September 1973 in New York zur UN-Generalversammlung versammelt hatten. Die Lektion in Sachen Pragmatismus wurde von Henry Kissinger erteilt, der wenige Tage später in den Strudel einer der schwersten Krisen des Kalten Krieges, die zum Jom-Kippur-Krieg führte, geraten sollte: Als er im Morgengrauen des 6. Oktober aus dem Bett gezerrt wurde, stellte er fest, dass dem Nahen Osten nur noch neunzig Minuten Frieden blieben.13 Doch ein paar Tage zuvor war der neu ernannte US-Außenminister und Nationale Sicherheitsberater mit seinen Gesprächspartnern bereits zum Kern des Problems vorgedrungen: Es gab keine perfekten Lösungen, die vom Himmel fielen, aber es gab die Chance auf ein besseres Leben. Ein relativer Frieden, ein relatives Abkommen, also nicht optimal, aber doch besser als ein verheerender Alltag.

›Frieden‹ und ›Vollkommenheit‹ sind weit auseinander liegende Worte. Das waren sie schon immer. Wer weiß, ob sich Kissinger in diesen fiebrigen Tagen an einen Satz erinnerte, den er sechzehn Jahre zuvor in seiner Doktorarbeit über das System des Wiener Kongresses geschrieben hatte: Die Logik des Friedens ist die Verhältnismäßigkeit, und Verhältnismäßigkeit impliziert Begrenzung. Grundsätzlich bedeutet Verhältnismäßigkeit auch Annehmbarkeit. Und so kehren wir zurück zur Bedeutung der Gespräche in New York und vor allem derjenigen, die in den folgenden Monaten im fliegenden Wechsel zwischen Washington, Tel Aviv und Kairo stattfanden. Wir kehren zurück zu der Suche nicht nur nach einem militärischen Rückzug, sondern nach der Fähigkeit der Kontrahenten, die Standpunkte des anderen anzuerkennen und seine Befürchtungen zu verstehen.14 Im Jargon der Unter­händler nennt man das confidence building; es heißt, Empathie aufzubauen, Verlässlichkeit, das Gefühl, dass man sich gegenseitig vertrauen kann. Doch zunächst, noch vor der Entscheidung, ob man Vertrauen haben kann, und wie viel Vertrauen man haben kann, muss man sich mit der Begrenzung auseinandersetzen, also mit dem Verzicht auf die Absolutheit.

Als Nathan Brown, Dozent an der Georgetown University, Mitte Dezember 2023 die Vermittlung Katars in den Gaza-Waffenstillstandsverhandlungen kommentierte, sagte er, das Problem der Diplomatie sei nicht das Fehlen von Gesprächskanälen, sondern die existenzielle Natur des Konflikts, die völlig unrealistischen Erwartungen aller Beteiligten und die Neigung jeder Seite, Verhandlungen als eine zurückzuhaltende oder zu gewährende Belohnung zu betrachten, anstatt als Mittel zur Erreichung eines Ziels. Altgediente politische Anführer und eine aufgebrachte öffentliche Meinung fordern von den Verhandlungsführern also das Unmögliche, während es in Wirklichkeit die eng umgrenzten Ziele sind, die die größten Erfolgsaussichten haben, da sie es ermöglichen, auf einem – wenn auch kleinen – Gebiet gemeinsamer und sich überschneidender Interessen aufzubauen.15

Denn obgleich das Wort ›Frieden‹ Unmittelbarkeit und Totalität herausschreit, verlangt es in Wahrheit die Geduld eines Ziseleurs, eine Mikrochirurgie des Möglichen, psychologische Sonden, die es schaffen, in die Tiefe gereizter Gemüter und delegitimierender Wutausbrüche einzudringen. In die Schichten des abgelagerten Hasses. Der Hass ist ein eigenartiges politisches Tier, ein Antrieb, der blind macht; aber auch der Wunsch nach Vergeltung kann blenden und den Frieden trüben. Nicht zufällig erinnerte sich Harold Nicolson, wenn er an die unglücklichen Monate dachte, in denen er 1919 die Arbeit der Versailler Konferenz verfolgte, vor allem an den geistigen Nebel, der die Delegierten umhüllte, und mahnte seine Leser, in dieser Versammlung nicht nach Spuren fortdauernder Klarheit zu suchen, weil es keine gab: Inmitten solch großer Verwirrung und so vieler Irrtümer, räumte er ein, wäre es selbst für Übermenschen unmöglich gewesen, einen Frieden der Mäßigung und Gerechtigkeit zu ersinnen.16

Auf der Suche nach Bewegung

Versuchen wir, die Suche nach Definitionen fortzusetzen. Frieden ist ein Prozess. Eine Art, Probleme zu lösen. John Fitzgerald Kennedy war darauf bedacht, dies in mehreren Reden zu wiederholen, vor verschiedenen Zuhörerschaften und in dem offensichtlichen Bemühen – der Obsession seiner allzu kurzen Amtszeit –, eine Definition festzuhalten, die von dem Schreckbild des Atompilzes angetrieben wurde, das weder er noch die Welt länger verjagen konnte. Im Juni 1963, als die Erfahrung der Kubanischen Raketenkrise noch frisch war, und dann im September vor der Versammlung der Vereinten Nationen, betonte er nachdrücklich: »Der Friede ist ein täglicher, wochen- und monatelanger Prozeß der allmählichen Meinungsänderung, der langsamen Aushöhlung alter Widerstände, des stillen Aufbaus neuer Strukturen.«17 Er war sich bewusst, wie ›unspektakulär‹ es war, den Frieden zu verfolgen, und erinnerte dennoch an die Unausweichlichkeit dieser Bemühung. Die Angst der dreizehn Tage im Oktober 1962, als die Welt tatsächlich am Rande des Dritten Weltkriegs – diesmal eines Atomkriegs – gestanden hatte, war noch ganz präsent: Nach der Entdeckung der von der UdSSR auf der Karibikinsel installierten Raketenrampen und dem langen Tauziehen zwischen den beiden Supermächten hatten Kennedy und Chruschtschow schließlich einen Ausweg gefunden, einen ehrenhaften Kompromiss, der den Gegner nicht demütigte und eine Atempause ermöglichte. Der Frieden war in diesem Fall die Frucht der Minuten, der Stunden, in denen die verschiedenen Optionen geprüft und Verhandlungen geführt wurden.

Zwischen den Worten, die im Juni auf dem Rasen vor den Reihen der Absolventen der American University in Washington gesprochen wurden (Worte, die sich unauslöschlich in ihre Erinnerungen eingeprägt haben, wie sie noch heute erzählen18), und jenen im Glaspalast der Vereinten Nationen lagen jedoch Taten, nämlich die Unterzeichnung des Abkommens zur Aussetzung der Atomtests in der Atmosphäre durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion, ein Schritt zur Anerkennung des Gegners, vielleicht eine Pause im Kalten Krieg – es hatte acht Jahre gedauert –, aber keine Garantie für einen dauerhaften Frieden.

Das Wort ›Frieden‹ sollte daher nicht das Alles und zwar sofort! beschwören, sondern die Idee einer Bewegung (von wie vielen roadmaps zum Frieden haben wir schon gehört…), theoretisch fortschreitend, häufiger stockend, bestehend aus Stillständen und Neustarts, aus Dunkelheit und neuem Licht. So funktioniert es, erklären die Beteiligten, die Wegbereiter-Mediatoren, die erkunden, ob der Boden für eine Auseinandersetzung bereit ist. Der Frieden setzt in Bewegung. Es ist ein Weg, erinnerte Kardinal Matteo Zuppi in seinem offenen Brief vom 3. November 2022. Ein adaptiver Prozess, sagen uns die Theoretiker. Vor allem ein dynamischer Prozess. Frieden ist also kein ›Zustand‹. Deshalb hat das Wort Scharen von Theoretikern der Politik und der internationalen Beziehungen beschäftigt, die sich bei der Definition des Phänomens Krieg wohlfühlten, weniger dagegen bei der des Nach-Kriegs. Es genügt, den schönen Eintrag Frieden zu lesen, den Norberto Bobbio für das von Nicola Matteucci herausgegebene Dizionario di politica verfasst hat,19 um zu verstehen, wie sehr in fast einem halben Jahrhundert der Konfrontation von Realität und intellektueller Ausarbeitung die Analyse des Friedens immer mehr zu einer Übung der Destrukturierung und Neuartikulation geworden ist, bei der die Situationen vor Ort neue Interpretationen und Konfigurationen angeregt haben, keine davon endgültig. Zunehmend unzufrieden mit der reduktiven Auffassung von Frieden als Abwesenheit von Krieg, haben Wissenschaftler bemerkt, wie sehr es an quantitativen Daten zum Frieden mangelt, verglichen mit der Fülle jener über Konflikte. Die Suche nach unkonventionellen Forschungswegen zeigt inzwischen, dass der Frieden, flüchtig und weit weniger auffällig als ein Aufstand oder ein Bürgerkrieg, nicht das symmetrische Gegenteil des Krieges ist, sondern ein Eigenleben führt und Zeit braucht, um sich zu entfalten. In gewissem Sinne könnte das Konzept des ›Friedens‹ im Konzept des ›Krieges‹ regelrecht ›begraben‹ sein, gemäß der eindrucksvollen Interpretation des Anthropologen Donald Tuzin, und zu einem flüchtigen Phantom werden, während es in gewisser Weise im Herzen der Konflikthaftigkeit verankert bleibt: Der Frieden ist uns seltsam unvertraut und erschreckt uns, schrieb Tuzin im September 1990, am Ende von über vier Jahrzehnten Kaltem Krieg.20

Die Wende

Heute, im dritten Jahrzehnt des dritten Millenniums, desorientiert durch konventionelle und unkonventionelle Kriege, kann es noch immer hilfreich sein, sich unter anderem an die Idee zu halten, dass Frieden gemacht wird. Noch zuvor aber, dass der Frieden gedacht wird. Er wird als möglich gedacht. Und als wünschenswert. Erst dann hat er die Möglichkeit, als Überzeugung Gestalt anzunehmen, als ein Ergebnis, das dem Ausbruch oder der Verlängerung von Feindseligkeiten vorzuziehen ist. Zustimmung und geistige Bereitschaft bilden den Nährboden für eine Friedensinitiative, die kein allein durch Waffengewalt und militärischen Sieg erzwungener Frieden ist, oder das, was bereits Lukan den Frieden nannte, der »mit einem Herrn kommt«.21 Geoffrey Berridge, Historiker und Diplomatietheoretiker, kann uns helfen zu verstehen. Mit einem Wortspiel (ja, schon wieder Worte) definiert er die Einleitungsphase einer Friedensverhandlung mit der Formel agree to agree, sich darauf einigen, sich zu einigen oder, besser, über die Notwendigkeit, sich zu einigen. Talking to the Enemy, mit dem Feind sprechen, ist der Titel seiner bahnbrechenden Studie über unkonventionelle Instrumente zur Fortsetzung oder Wiederaufnahme von Kontakten mit der ›anderen Seite‹, auch nach der Schließung offizieller Kanäle – unter anderem der Botschaften – oder in deren Abwesenheit. Es ist, als ob das Bedürfnis nach Kommunikation zwischen den feindlichen Parteien, auch auf informellen Wegen, und vor allem auf informellen Wegen, in die Mauer des Antagonismus und Missverständnisses eindringen und sich durchsetzen würde, uralt und beharrlich wie eine Wüstenpflanze, eine Welwitschia mirabilis, die sich allein von der Feuchtigkeit des Morgens ernährt.

Genau diese emotionale und mentale Bereitschaft zum Dialog und zur Akzeptanz – die die Anerkennung des ›Anderen‹ mit einschließt –, stellt die Bedingung dar, die die Friedensmaschine in Gang setzen kann. Solange ein Gegner zu stark ist, solange ein Feind einen objektiven Vorteil hat, wird sich das Wort ›Frieden‹ kaum in ein notwendiges Ziel verwandeln können. Versuchen wir also, uns auf den genauen Moment zu konzentrieren, der das Vorher vom Nachher trennt, jenen, der dem Frieden Raum im Geist und in den Gesten gibt, jenen, der die Wende und den qualitativen Sprung ausmacht, der eine Diskontinuität der Emotionen und des Verhaltens anzeigt. Es gibt eine Möglichkeit, diesen Moment einzufangen, und der besteht darin, sich auf die Praxis zu verlassen, auf die Handlungen, die die Worte nähren und untermauern, ohne die die Worte leer bleiben und uns durch die Finger gleiten.

 

Anmerkungen

1 Zit. n. H. Nicolson, Peacemaking 1919, London, Methu­en, 1964, S. 10.

2 N. Chamberlain, »Peace for Our Time«, Rede vom 30 September 1938, https://eudocs.lib.byu.edu/index.php/Neville_Chamberlain%27s_%22Peace_For_Our_Time%22_speech (zuletzt abgerufen im Mai 2024).

3 Zum Konzept des ›Friedens‹ als Paradoxon ist hilfreich: T. Hippler u. M. Vec (Hg.), Paradoxes of Peace in Nineteenth Century Europe, Oxford, Oxford University Press, 2015, S. 4 ff. Siehe auch O.P. Richmond, The Transformation of Peace, London, Palgrave, 2016, S. 2 ff.

4 Zit. n. M. Mori, La pace e la ragione. Kant e le relazioni internazionali: diritto, politica, storia, Bologna, Il Mulino, 2008, S. 284.

5 Vgl. O.A. Hathaway und S.J. Shapiro, The Internationalists: How a Radical Plan to Outlaw War Remade the World, New York, Simon & Schuster, 2017, besonders Kap. V.

6 Il Sole 24 Ore, 22. Januar 2024, S. 17.

7 Zit. n. https://peacemuseum.wp.st-andrews.ac.uk/2023/08/­31/­picturing-peace-in-the-drc (letzter Zugriff: Mai 2024). Siehe auch https://www.hughcunninghamphotography.com/warandpeaceincongo (letzter Zugriff: Mai 2024).

8 Vgl. G.M. van Iterson Scholten, Visions of Peace of Professional Peace Workers: The Peace We Build, London, Palgrave, 2020.

9 Es handelt sich um die sogenannte Davenport-Friedensskala, die von Christian Davenport vorgeschlagen wurde. Siehe C. Davenport, E. Melander und P.M. Regan, The Peace Continuum: What It Is and How to Study It, Oxford, Oxford University Press, 2018.

10 Einigen Erfolg hat in dieser Hinsicht das Konzept des small peace gehabt, das z.B. von P. Smoker, »Small Peace«, in Journal of Peace Research, 18, Nr. 2, 1981, S. 149-157, untersucht wurde.

11 Global Peace Index 2023, https://www.visionofhumanity.org/wp-content/uploads/2023/06/GPI-2023-Web.pdf (letzter Zugriff Mai 2024).

12 A. Perlmutter, »Crisis Management: Kissinger’s Middle East Negotiations (October 1973-June 1974)«, in International Studies Quarterly, 19, Nr. 3, 1975, S. 325, wo ein in der Washington Post vom 26. September 1973 veröffentlichter Artikel zitiert wird.

13 H. Kissinger, Crisis: The Anatomy of Two Major Foreign Policy Crises, New York, Simon & Schuster, 2003, p. 14.

14 So in einem Interview mit Newsweek vom 20. Mai 1974, zitiert in Perlmutter, Crisis Management, a.a.O., S. 326.

15 Vgl. N. Brown, »Different Diplomacies at Work: Who Is More Effective?«, in ISPI-MED Newsletter, 15. Dezember 2023.

16 Vgl. Nicolson, Peacemaking 1919, a.a.O., S. 7. Die semantische Verschiebung, durch die das Wort ›Frieden‹ auch ›Friedensvertrag‹ bedeuten konnte, wird auf das 4. Jahrhundert v. Chr. datiert.

17 J.F. Kennedy, The Burden of Glory, New York, Harper & Row, 1964, zit. nach der deutschen Ausgabe: Glanz und Bürde. Die Hoffnungen und Zielsetzungen des 2. und 3. Jahres der Präsidentschaft Kennedys, Düsseldorf, Econ, 1964, S. 118.

18 https://www.youtube.com/watch?v=O7GfnzjO2Js (letzter Zugriff: Mai 2024).

19 N. Bobbio, Pace, in ders., N. Matteucci und G. Pasquino, Dizionario di politica (zuerst 1976), Turin, UTET, 2004, S. 656-661. Siehe jetzt auch ders., Lezioni sulla guerra e sulla pace, Roma-Bari, Laterza, 2024, wo Bobbios Universitätsvorlesungen aus dem Jahr 1964 zusammengefasst sind.

20 D. Tuzin, »The Spectre of Peace in Unlikely Places: Concept and Paradox in the Anthropology of Peace«, in T. Gregor (Hg.), A Natural History of Peace, Nashville, Tenn., Vanderbilt University Press, 1996, S. 26.

21 Zit. n. I. Lana, L’idea della pace nell’antichità, San Domenico di Fiesole, Cultura della Pace, 1991, S. 185.

Zusätzliche Informationen

Gewicht 122 g
Größe 21 × 10,8 × 0,9 cm