| Vladimir Safatle: Zynismus und das Scheitern der Kritik

24,00 

Der brasilianische Philosoph und Psychoanalytiker Vladimir Safatle über Zynismus als Denk- und Lebensform des Neoliberalismus. Ein Schlüsselwerk zum Verständnis des neuen, »libertären« Autoritarismus à la Trump, Musk und Milei.

ISBN: 978-3-911804-00-4

320 Seiten, Klappenbroschur

21,0 cm x 10,8 cm x 2,6 cm, 355 g

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Artikelnummer: 978-3-911804-00-4 Kategorien: , ,

Beschreibung

Das Buch: Zynismus und das Scheitern der Kritik

Warum gelingt es autoritären Bewegungen heute so leicht, liberale Demokratien zu unterwandern? Der Philosoph und Psychoanalytiker Vladimir Safatle, einer der bekanntesten Intellektuellen Brasiliens und Protagonist des Widerstands gegen die Regierung Bolsonaro, liefert eine bestechende Diagnose: Der ›neue Faschismus‹ ist nicht einfach ein Rückfall in archaische Gesellschaftsmuster; seine Wirksamkeit beruht vielmehr auf der Verallgemeinerung einer neuen, zynischen Form der Rationalität, die sich in den liberalen Demokratien selbst herausgebildet hat. Zynismus ist damit nicht nur als rhetorische Figur zu verstehen oder als eine subjektive, moralisch verwerfliche Haltung; er bildet vielmehr die rationale Struktur einer Gesellschaft im Zerfall, die im uneigentlichen Sprechen, in der selbstironischen Verleugnung ihre Überlebensstrategie gefunden hat.

Nach Safatle hat dies tiefgreifende Konsequenzen für den Status der Kritik: Gegenüber einer ›zynischen Vernunft‹, die aus ihrer eigenen Kritik einen Witz macht, ist klassische Ideologiekritik machtlos geworden. Umso mehr kommt es darauf an, eine neue Art der Kritik zu entwickeln, eine Kritik, die, wie Safatle sagt, »gegenwärtig in erster Linie eine Kritik der Ironie sein muss«.

ZYNISMUS UND DAS SCHEITERN DER KRITIK ist ein philosophisches Schlüsselwerk zum Verständnis unserer politischen Gegenwart, das nun erstmals auf Deutsch zu entdecken ist.

Der Autor: Vladimir Safatle

VLADIMIR SAFATLE ist ordentlicher Professor der Philosophischen Fakultät der Universität São Paulo und Professor am Institut für Psychologie derselben Institution. Er war Gastprofessor an den Universitäten Ca’ Foscari (Venedig), Paris I, Paris VII, Paris VIII, Paris X, Toulouse (Frankreich), Louvain (Belgien) und Essex (England), visiting scholar an der University of California, Berkeley, sowie fellow am Stellenbosch Institute of Advanced Studies (Südafrika), bei The New Institute in Hamburg und am Institut d’études avancées (Paris). Er ist einer der Koordinatoren des Forschungslaboratoriums für Sozialtheorie, Philosophie und Psychoanalyse (Latesfip/Universidade de São Paulo) und verantwortlich für die Herausgabe der Werke Theodor Adornos in portugiesischer Sprache (Coleção Adorno, Unesp).

Als eine Schlüsselfigur der akademischen Linken Brasiliens und Mitglied des Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) war Vladimir Safatle Vorkandidat für das Amt des Gouverneurs von São Paulo und Kandidat für das Amt eines Abgeordneten im Bundesparlament – in der aktuellen Legislaturperiode ist er Vertretungsabgeordneter. Er war Kolumnist der Zeitungen El País und Folha de São Paulo, Fernsehkommentator bei TV Cultura und Mitarbeiter von Zeitungen wie Le Monde und La Vanguardia. Während der rechtsextremen Regierung von Jair Bolsonaro war er einer der Organisatoren des Amtsenthebungsantrags gegen diesen, was ihm politische Verfolgung einbrachte und dazu führte, dass er von der französischen Regierung im Rahmen eines Programms zum Schutz gefährdeter Akademiker aufgenommen wurde. Seine Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Bereiche Psychoanalyse, Philosophie der Musik, politische Philosophie, Kritische Theorie und posthegelianische dialektische Tradition. Zu seinen Büchern gehören: Alphabet of colisions: Practical philosophy in chronical times (Columbia University Press, im Erscheinen), Le circuit des affects: Corps politiques, détresse et la fin de l’individu (Le bord de l’eau, 2022); Grand Hotel Abyss: Desire, recognition and the restoration of the subject (Leuven University Press, 2016) und La passion du négatif: Lacan et la dialectique (Georg Olms, 2010) sowie verschiedene weitere in portugiesischer, spanischer und italienischer Sprache.

Weitere Informationen: Wikipedia-Artikel (engl.) zu Vladimir Safatle

Stimmen zur Veröffentlichung:

»Die Autoritären von heute sind oft clowneske Gestalten, an denen Kritik abperlt. Warum? Ein wenig Dialektik der Aufklärung gegen die denkfaule These von der allgemeinen Regression.«

Mladen Gladić (WELT): Leseempfehlung zur Leipziger Buchmesse (Das sind die besten Bücher für den Frühling, WELT, 23.03.2025)

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»Vladimir Safatle ist einer der ­wichtigsten Theoretiker unserer Zeit. Seine Schriften sind Inter­ventionen zu Gegenwartsfragen, die neue Perspektiven auf ­unsere Gesellschaft und auf uns, die dadurch geformten Subjekte, ­eröffnen. Seine Zeitdiagnose ist ­resolut negativ, aber niemals pessimistisch. Immer erkennt er noch im dunkelsten Verblendungs­zusammenhang Möglichkeiten, wie wir aus diesem entkommen könnten. Seine Verbindung von ­Lacan und Adorno – mit einem guten Schuss von Hegelscher Dialektik – erhellt immer die verzwickte gesellschaftliche und individuelle Lage, in der wir uns finden; und das zugleich auf mehreren Ebenen. Es lohnt sich immer, Safatle zu lesen, und es lohnt sich besonders, sein neuestes Buch, Zynismus und das Scheitern der Kritik, zu lesen.«

Prof. Fabian Freyenhagen, University of Essex

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»In einer Reihe mit Freuds Massen­psychologie und Ich-Analyse und Lacans Arbeiten über die kollektive »logische Zeit« stehend, schafft es Safatle, einen unschätzbaren Raum des Denkens und der politischen Intervention zu eröffnen. Hier verbindet sich die psychoanalytische Einsicht in die grundlegende, aber stets verleugnete Spaltung des Subjekts mit der Analyse jener besonderen Formen der Entfremdung – ein Begriff des Marxschen Vokabulars, den Safatle erfri­schend bejaht –, denen die Subjekte im politischen Sinne unterworfen sind. Beide, Leugnung der Spaltung und Ausbeutung der Entfremdung, lassen sich mit demselben Wort des »Zynismus« belegen.
Zynisch ist die gesellschaftlich-ökonomische Gesamtordnung, die uns alle vereinzelt zu Zynikern macht. Als sei das stumpfe »Es ist wie es ist« tatsächlich der Wahrheitsspruch unserer Zeit. Ohne Gespür für eine Alternative will der Zynismus auf die Verkennung seines Unglücks einpferchen, um sich so immer weiter genießen zu können. Dieses Buch aber bringt dies fehlende Gespür zum Sprechen, und mit denkerischer Libido wird die Kritik zu einer lustbesetzten Praxis.«

Marcus Coelen, Psychoanalytiker, Ludwig-Maximillians-Universität München

Informationsseite zu Veranstaltungen mit Valdimir Safatle

Hier finden Sie Informationen zu Veranstaltungen mit Vladmir Safatle während seines Deutschland-Aufenthalts im März 2025: https://zynismus.eu

Leseprobe: Vorwort

Auf diese Art geht die Welt zugrunde:

Nicht mit Gewimmer,

sondern mit einer Parodie.

Dieses Buch erschien erstmals 2008. Ich möchte gerne glauben, dass jede Erfahrung kritischer Theorie etwas von einer Seismographie an sich hat. Das Schreiben entspringt einem Ort, an dem Tendenzen zu spüren sind, die sich in späteren Zeiten als hegemonial erweisen können. Tatsächlich ist es so, dass sich die Welt in den letzten fünfzehn Jahren beschleunigt hat. Gesellschaftliche Übereinkünfte, die fest erschienen, lösten sich in Luft auf, die gesellschaftlichen Gegensätze traten mit unerträglicher Deutlichkeit zutage. Angesichts eines Systems verbundener Krisen, das sich in seiner Eigenschaft als Krise stabilisiert und globale Dimensionen annimmt (ökologische, demographische, soziale, politische, ökonomische, psychische und epistemische Krise), wird die Welt Zeuge der Verfestigung autoritärer Alternativen, die sich vielfach auf die Geschichte nationaler faschistischer Bewegungen stützen und dabei offene Formen sozialer Gewalt normalisieren, die wir bis vor kurzem noch für unwahrscheinlich halten konnten.

Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftlichen Zerfalls gab es nicht wenige Analysen, die darauf beharrten, die Dynamik der starken Unterstützung faschistischer und rechtsextremer Ansichten durch die Bevölkerung als Ausdruck irgendeiner Form des Defizits zu erklären, sei es eines moralischen (Hassreden), eines psychologischen (Ressentiment, Frustration) oder eines kognitiven Defizits (Glaube an Fake News, Leugnungsdiskurse, Obskurantismus). In all diesen Fällen sah es so aus, als ob es Regressionen wären, die in Momenten der Krise und Instabilität das normale Funktionieren unserer Gesellschaften unmöglich machen. Es gab keinen Mangel an Leuten, die es für angebracht hielten, den jahrhundertealten Konflikt zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Aufklärung und Aberglauben neu aufzulegen. Besser wäre es gewesen, mit der Frage zu beginnen, wie viel Barbarei im Inneren der Zivilisation existiert und wie viel Aberglaube untrennbar mit der Aufklärung verbunden ist. Ein wenig Dialektik der Aufklärung täte in solchen Momenten gut und hätte uns viele vorgeblich erbauliche Diskussionen erspart, die nur dazu dienten, unsere Illusion moralischer und intellektueller Überlegenheit zu nähren, während die Möglichkeiten realer Veränderung weitgehend aus dem Feld der progressiven Kräfte verdrängt wurden. Mit anderen Worten: Es ist weitaus bequemer sich vorzustellen, dass Anhänger der extremen Rechten beispielsweise von Ressentiment getrieben werden, da uns dies eine moralische Überlegenheit ihnen gegenüber verschafft und uns die Sicherheit gibt, dass unsere Entrüstung ihrerseits nichts mit Ressentiment zu tun habe. Diese Lesarten, die sich darauf stützen, Formen des Defizits bei den Subjekten aufzuspüren, die sich in die Reihen des Faschismus und der extremen Rechten eingliedern, sagen jedoch in Wahrheit viel mehr über die Art und Weise aus, wie der Beobachter sich selbst gerne sehen würde, als über den zu beschreibenden Gegenstand.

Die Hypothese dieses Buches bestand darin, solche Lesarten vom gegenwärtigen Aufstieg des Autoritarismus zurückzuweisen. Diskussionen über soziale Rationalisierungsprozesse, die auf ›zynische‹ Weise operierten, waren bereits von anderen Autoren aufgeworfen worden. Doch dieses Buch versuchte zu zeigen, dass die Normalisierung einer solchen sozialen Pathologie ein Phänomen darstellte, das wichtig war, um zu verstehen, inwiefern autoritäre Dynamiken nicht etwa Früchte der gesellschaftlichen ›Regressionen‹ waren, sondern vielmehr Ergebnisse der ›normalen‹ Funktionsmodi der Sozialisations- und Individuationsvorgänge. Das heißt, es ging darum, das Problem der zynischen Rationalität als einen fundamentalen Bestandteil der Theorien über den zeitgenössischen Faschismus zu definieren. Es war unmöglich, irgendetwas über den faschistischen Aufstieg in unserer Zeit zu verstehen, ohne das Problem der Verallgemeinerung von Modellen zynischer Rationalität einzubeziehen.

Es müsste also daran erinnert werden, wie sehr die These der sozialen Regression gewöhnlich dem Glauben verhaftet ist, dass autoritäre Umbrüche innerhalb der liberal-demokratischen Gesellschaften durch das Wiederauftauchen irgendeiner Form von Archaismus bedingt werden. Das ist eine tröstliche These, da sie zu garantieren scheint, dass die Potenziale zur Verwirklichung demokratischer Lebensformen in unseren Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung schon angelegt seien. Es gäbe folglich keinen Grund, sie strukturell zu kritisieren. In dieser Hinsicht geht die Zynismus-These, ganz im Gegenteil, von der Feststellung aus, dass autoritäre Umbrüche innerhalb liberal-demokratischer Gesellschaften ein ›normales‹ Phänomen sind. Der sogenannte ›Illiberalismus‹ ist konstitutiver Pol des Liberalismus, nicht sein Gegenteil. Die eigentliche Frage ist eine andere, nämlich: Wo lässt der Liberalismus das Hervortreten seiner ›Illiberalismen‹ zu? Unter normalen Umständen treten sie überall da in Erscheinung, wo Ausnahmezustände legitimiert werden, doppelte Gesetzesstrukturen bestehen und Normen flexibilisiert werden. Das heißt: üblicherweise in Kolonien, in der Peripherie und in der Gewalt gegen aufständische Gruppen. Doch in einer Situation der strukturellen Krise, wie wir sie heute erleben, verbreiten sich solche Formen des Autoritarismus über die ganze Gesellschaft. Diese Verallgemeinerung ist möglich, weil es in eben der Konstitution der Individuen der liberalen Demokratie eine autoritäre Matrix gibt. Die Individuen bieten keine Garantie für demokratische Normalität. Sie sind nicht die Garantie dafür, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der individuelle Freiheiten fundamental sind, in der die Toleranz gegenüber der Vielfalt von Interessen und Lebensweisen vorherrschen kann. In Wahrheit sind die Individuen so konstituiert, dass sie stets offen für autoritäre Diskurse sind, für Praktiken der Segregation, für die Stabilisierung von Gewaltverhältnissen und Formen der Auslöschung. Dies ist es, was ich in meinem Buch zu erklären versucht habe, anhand einer Ontogenese der praktisch-kognitiven Fähigkeiten der Subjekte, die das Problem der zynischen Rationalität zum Ausgangspunkt macht.

In diesem Sinne wäre anzumerken, dass die Diskussionen über den Zynismus es uns ermöglichen, die aktuellen Prozesse einer Stabilisierung des gesellschaftlichen Zerfalls besser zu erfassen. Dies ist eines der wichtigsten Forschungsprobleme, die ich mir seither gestellt habe, nämlich zu verstehen, wie eine solche Stabilisierung sich vollzieht und welche Konsequenzen sie hat. Eine der ersten Thesen, die ich diesbezüglich vertrat, bestand darin zu behaupten, dass die Gesellschaft angesichts des offenkundig gewordenen Zerfalls ihrer Integrationsversprechen und der Reduktion solcher Versprechen auf bloßen gesellschaftlichen Schein, in eine immer stärker verallgemeinerte Dynamik zynischen Funktionierens eintreten würde.

Saint-Just pflegte zu sagen: »Celui qui plaisante à la tête du gouvernement tend à la tyrannie« [»wer an der Spitze der Regierung Scherze treibt, neigt zur Tyrannei«]. Das heißt, nichts ist autoritärer als eine Macht, die über sich selbst lacht. Denn eine Normativität, die auf zynische Weise funktioniert, ist eine solche, die ihre eigene Negation in sich trägt, das Bewusstsein ihrer eigenen Ausweglosigkeit, die Gestalt ihrer eigenen Kritik, ohne dass dieser Widerspruch sie am Funktionieren hinderte. Das bedeutet, dass die Menschen sich der Ohnmacht ihrer eigenen Äußerungen bewusst sind, aber diese Äußerungen müssen weiterhin ausgesprochen werden, müssen weiter im Umlauf bleiben, Ernst und Ironie vermengend, als befänden wir uns in einem Zustand der absoluten Ironisierung der Verhaltensweisen. Und es wird kein Zufall sein, wenn man entdeckt, dass die gegenwärtigen Figuren autoritärer Führung in ihrer großen Mehrheit ›komödiantisch‹, ›parodistisch‹ sind. Viele von ihnen kommen aus der Welt der Massenkommunikation oder haben lange Zeit dort verbracht, als Charaktere, die bewusst mit Karikaturen und Stereotypisierungen spielen, die ständig über sich selbst lachen, die uns in jedem Augenblick daran zweifeln lassen, ob sie es ernst meinen oder nicht. Die zynische Komik ist nämlich eine erfolgreiche Kompromissbildung. Sie erlaubt es, die brutalsten Verhaltensformen aufrechtzuerhalten und zugleich einen möglichen Abstand zu schaffen zwischen dem Ausgesagten und dem Aussagenden, zwischen dem empfangenen Diskurs und der Einstellung des Empfängers.

Weit entfernt davon, auf die Funktionsweisen der Diskurse beschränkt zu sein, verwies dieses Phänomen auf etwas Tieferliegendes; es machte nämlich eine Form der psychischen Strukturierung der Subjekte explizit. Dies hilft vielleicht zu verstehen, warum Zynismus und das Scheitern der Kritik auf seine Weise eine erste Abrechnung mit dem darstellte, was wir die ›Domestizierung der Kritischen Theorie‹ nennen könnten, beginnend mit der zweiten Generation der sogenannten Frankfurter Schule. Denn es ging darum, die Nichtigkeit einer Kritik aufzuzeigen, die auf der Identifizierung performativer Widersprüche basierte, auf dem Glauben an Gespenster kommunikativer Vernunft, die irgendwo in unseren Lebenswelten umhergeistern, wie Jürgen Habermas uns dies vorschlug. Mit einem derart beschränkten Kritik-Horizont zu operieren war nur möglich, wenn man die Verbreitung verschiedener Modalitäten der Ichspaltung und neuer hegemonialer Formen der Bewältigung psychischer Konflikte ausblendete, welche die zynische Vernunft besonders klar zum Ausdruck brachte. Die von der kommunikativen Rationalität vorausgesetzten Subjekte – mit ihrer Einheit der Persönlichkeit, ihrer Verhaltenskohärenz, mit ihrer privatisierten Sprache, die sich der Ausweitung des einheitlichen Verständnishorizontes des Bewusstseins, der Übersetzbarkeit in öffentliche Sprache fügen sollte – existieren schlichtweg nicht. Was wir stattdessen vorfinden, sind Subjekte, die mit instabilen Strukturen der Ichspaltung umgehen und ihr Verhalten auf der Grundlage der Dauerhaftigkeit dieser Spaltungen organisieren. Es sind Subjekte, die dazu fähig sind, »zwei entgegengesetzte Ideen im Kopf zu beherbergen und dennoch weiterzufunktionieren«, wie Scott Fitzgerald einmal gesagt hat.

Deshalb war es notwendig, von einer Analyse der libidinösen Ökonomie des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner Subjektivitätsregime auszugehen. Dabei handelt es sich um Regime, die Konflikte tendenziell nicht mehr mittels der Dynamiken der neurotischen Verneinung bewältigen, mit ihren Aufteilungen des psychischen Apparats in eine regelrechte Topologie getrennter Räume (Bewusstes/Unbewusstes, Ich/Es/Über-Ich etc.), sondern durch Formen der perversen Verleugnung, die in Strukturen wie dem Fetischismus so klar sichtbar sind. Verleugnungen, die die Beständigkeit von Spaltungen aufzeigen, die ohne die Notwendigkeit der Verdrängung oder Unterdrückung zustandekommen. Spaltungen, die ihrerseits nicht zwischen psychischen Instanzen wirksam werden, sondern innerhalb des Ich selbst. Eine Situation, die Subjekte dazu brachte, die immanente Flexibilität der Normen zu erlernen, das kontinuierliche Spiel mit den Gestalten eines gespaltenen Bewusstseins. Darum stellt der Zynismus eine reaktive und verzweifelte Weise dar, eine tiefgehende psychische Krise zu stabilisieren, in der die traditionellen Formen psychischer Synthese, der Individualität und der Identität nicht mehr die Kraft haben, sich Geltung zu verschaffen.

Nun gut, man könnte einer solchen Strategie vorwerfen, sie kranke an einem ›soziologischen Defizit‹, wie Axel Honneth es gegenüber Theodor Adorno getan hatte. Kurz gesagt: zu viel Psychoanalyse und zu wenig Soziologie. Was mich betrifft, so hielt und halte ich es für ein grundlegendes Materialismus-Defizit, wenn man nicht fähig ist, bei den Veränderungen in den Sozialisations- und Individuationsprozessen als realer Funktionsgrundlage der Ideologie anzusetzen. Die These vom ›soziologischen Defizit‹ verdeckt lediglich, dass manche nicht mehr bereit sind, sich zu fragen, wie die paradoxe Entwicklung psychischer Strukturen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften die Individuen und ihre Persönlichkeiten zu privilegierten Orten der Fundierung autoritärer Strukturen macht – eben weil sie bereit sind für eine zynische Rationalität, die die reale Bedingung des Autoritarismus darstellt. Mit anderen Worten, jene Kritiker befinden sich in einer Art anthropologischem Schlummer, da sie noch immer glauben, von potenziell einheitlichen Individuen, einer immanenten Autonomie und einer strukturierten, nicht-widersprüchlichen Persönlichkeit ausgehen zu können, obwohl nichts davon in dieser Form existiert.

Im Gegensatz dazu wurde dieses Projekt vor dem historischen Hintergrund des Scheiterns gewisser kritischer Ansätze entwickelt, die uns bis dahin leiten zu können schienen. Die erste davon war das Scheitern der Kritik als Enthüllung, der Kritik als Offenlegung der Produktionsweisen des Scheins. Eine Offenlegung, die in der Hoffnung betrieben wurde, dass wir dadurch die Faszinationsdynamiken des falschen Bewusstseins durchbrechen würden.

Als ich diese These zum ersten Mal vorstellte, hatte ich noch kein wirkliches Verständnis davon, was dieses Scheitern bedeutete. Heute wäre es angebracht, die Auffassung zu verteidigen, dass eine funktionierende Kritik der Ideologie, die diese nicht einfach auf eine zu überwindende Form kognitiver Beschränkung des gesellschaftlichen Bewusstseins oder auf eine Unfähigkeit zur korrekten Erfassung der Genese von Denkstrukturen reduziert, einer zweifachen Grundlegung bedarf – nämlich einer Diagnose des gesellschaftlichen Leidens und einer Art theologisch-politischen Horizonts. Zunächst muss sie von der These ausgehen, dass die gegenwärtigen Machtverhältnisse Leid erzeugen. Dies ist es, was Marx tut, wenn er Kritik als Gehör für das soziale Leiden begreift und bei der Entfremdung als dem fundamentalen Resultat kapitalistischer Vergesellschaftung ansetzt. Deshalb ist die Thematik der Entfremdung nicht bloß das Überbleibsel einer hegelianisch-feuerbachianischen philosophischen Anthropologie, wie Althusser und seine Anhänger es gerne hätten. Sie ist die fundamentale Achse der Organisation von Gesellschaftskritik, da sie das Entstehen der Kritik aus der Wahrnehmung des gesellschaftlichen Leidens ermöglicht: die einzig konkrete und wirkliche Basis für die Motivation zur revolutionären Aktion. In diesem Sinne ist Lukács sehr viel konsequenter, wenn er den Begriff der Verdinglichung zum zentralen Operator des gesellschaftlichen Leidens macht, nicht nur zum Resultat ideologischer Verkehrungsprozesse.

Die Ideologiekritik bedarf jedoch nicht nur einer Diagnose gesellschaftlichen Leidens, die die Subjekte dazu bringt, jene als ›natürlich‹ erscheinenden Strukturen des Denkens und der institutionellen Reproduktion der Gesellschaft in Frage zu stellen. Sie bedarf außerdem der These einer möglichen Transformation des Proletariats in eine offensive Kraft gegen das Kapital, und dies erfordert ein Selbstverständnis des Proletariats als Trägergestalt einer kommenden Welt. Von einer theologisch-politischen Kraft können wir sprechen, weil der revolutionäre Prozess auf diese Weise die Fähigkeit zum Entwurf einer Zukunft, den Glauben an eine weltliche Erlösung mobilisiert – als politische Strategie des Bruchs und der gesellschaftlichen Veränderung. Seit dem Bauernaufstand der Anabaptisten von 1525 zeugt die Geschichte von der Notwendigkeit einer solchen Mobilisierung. Geht diese Dimension verloren, bleibt zwar das Bewusstsein für den kritischen Charakter der Situation bestehen, jedoch ohne Handlungskraft. Sie ist nicht mehr potenzielles Bewusstsein des Kampfes, sondern die melancholische, desillusionierte Hinnahme des gegenwärtigen Gesetzes des Bestehenden. Dies erklärt, warum Adorno darauf bestand, dass die Ideologie nicht in der Verschleierung der Macht- und Herrschaftsdynamiken liegt, die die hegemonialen Denkstrukturen hervorbringen, sondern in der bedingungslosen Hinnahme des Bestehenden, selbst wenn die es kennzeichnenden Macht- und Gewaltbeziehungen offengelegt sind. Es ist diese resignative Hinnahme, durch die das Bewusstsein anfängt, auf zynische Weise zu funktionieren. Sie endet damit, die Notwendigkeit des Bestehenden zu bejahen, selbst wenn der gegenwärtige Zustand tiefgreifende Erfahrungen von Gewalt, Leid und Ungerechtigkeit hervorbringt.

Es lässt sich also fragen, wodurch das Proletariat diese theologisch-politische Kraft einbüßt. Das ist ein Hauptproblem der zeitgenössischen politischen Philosophie. Mario Tronti hat dazu einige schöne Seiten geschrieben. Zunächst wäre daran zu erinnern, dass das Proletariat als potenzielles politisches Subjekt nach wie vor existiert. Die Arbeit behält ihre Rolle als zentrale Instanz der Vergesellschaftung, was in gewisser Weise noch offensichtlicher wird vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Systems zur Verteidigung der Arbeitsrechte im Zuge des Neoliberalismus. Die Arbeitsregime haben sich verschärft, verbunden mit einem drastischen Rückgang der Löhne und wachsender sozialer Unsicherheit. Damit jedoch diese proletarische Potentialität zur Existenz gelangen kann, bedarf es einer verallgemeinerten Des-Identifikation mit Institutionen, sozialen Positionen und Identitäten: die einzige Voraussetzung dafür, dass sich die Besitzlosigkeit des Proletariats, seine Schutzlosigkeit, in eine Kraft zum Entwurf von Zukunft verwandelt. Anders gesagt, es bedarf einer Erfahrung von Negativität, die die Entwurzelung hinsichtlich jeder Repräsentation und jedes natürlichen Orts zur Bedingung einer anderen Form sozialen Handelns macht, eines Handelns, das den Zusammenbruch der gegenwärtigen Welt und die Öffnung zur Emanzipation im Blick hat.

Dies erklärt vielleicht, weshalb ich nach diesem Buch einen langen Weg zurücklegte und versuchte, die Bedingungen für eine Wiedergewinnung der dialektischen Negativität zu durchdenken – als eine Art und Weise, wie die kritische Theorie Strukturbrüche erfassen kann. Zu diesem Weg gehören vor allem die Bücher Grande hotel abismo1 und Dar corpo ao impossível2. Zugleich widme ich heute meine Forschungen der Problematisierung dessen, was wir unter ›Emanzipation‹ verstehen sollen. Der Horizont der Krisen, in dem wir uns befinden, schließt auch die Krise dessen ein, was uns hegemonial als ›Freiheit‹ und ›Emanzipation‹ verkauft wurde. Diese Negativität, die die Entwurzelung von jeder natürlichen Vorstellung zur Bedingung einer anderen Form sozialen Handelns macht, muss bis zu dem Punkt vorangetrieben werden, an dem eben jene Grammatik zusammenbricht, die wir benutzen, um uns selbst und unsere Ideale zu definieren. Auf systematischere Weise begann ich, diese Frage in Em um com o impulso3 zu durchdenken. Weitere Ausarbeitungen dieser Untersuchung werden in Kürze folgen.

Schließlich muss betont werden, dass sich diese mit der zynischen Rationalität und ihren Auswirkungen verbundenen Probleme mit immer größerer Dringlichkeit stellen, zumal wir wahrnehmen, wie das gegenwärtige Wiederaufleben des Faschismus sich als eine resistente und sich verstärkende Dynamik erweist. Dies erfordert ein genaueres Verständnis der Entfaltung zynischer Rationalität, ihrer Weisen der Legitimierung von Gewalt und jenes Horizonts einer ›Stabilisierung im Zerfall‹, den wir heute in jenen Krisen erleben, die sich in regelrechte Regierungsformen verwandelt haben. Dies habe ich mir für meine kommende Arbeit vorgenommen.

Den Leserinnen und Lesern dieses Buches möchte ich noch sagen, dass ich viele seiner Ausführungen überarbeiten würde, wenn es heute geschrieben würde. Doch das ist eine triviale Feststellung. Manche schreiben so, als hätten sie nur eine begrenzte Anzahl von Problemen zu ergründen. Diese werden von einer Art des Schreibens durch Vertiefung angetrieben, einem Schreiben als Grabungsarbeit. Mit der Zeit bemerken die, die so schreiben, dass ihre Art, Probleme darzustellen, eine gewisse Metamorphose durchläuft. Gewisse Thesen erweisen sich als vorläufige Wegmarken. Genau deswegen habe ich mich entschieden, den Text dieses Buches so zu belassen, wie er geschrieben wurde. Ein wenig wie jemand, der es für richtig hält, die Markierungen eines Weges zu bewahren, von dem er weiß, dass noch eine weite Strecke zurückzulegen ist.

 

1 Vladimir Safatle: Grande hotel abismo. Por uma reconstrução da teoria do reconhecimento, São Paulo: Martins Fontes, 2012.

2 Vladimir Safatle: Dar corpo ao impossível. O sentido da dialética a partir de Theodor Adorno, Belo Horizonte: Autêntica, 2019.

3 Vladimir Safatle: Em um com o impulso. Experiência estética e emancipação social. Belo Horizonte: Autêntica, 2022.

Zusätzliche Informationen

Gewicht 355 g
Größe 21 × 10,8 × 2,6 cm