||| David Lapoujade: Die minderen Existenzen. Étienne Souriaus Ästhetik des Virtuellen

14,80 

David Lapoujades präzise und klärende Einführung in die ästhetische Theorie des französischen Philosophen Étienne Souriau eröffnet einen neuen Blick auf die verschiedenen Weisen des Existierens – von den flüchtigsten Erscheinungen über die verachteten »minderen Existenzen« bis hin zu den virtuellen Möglichkeiten, die nach Verwirklichung streben.

ISBN: 978-3-9824105-2-4

164 Seiten, Format 21,0 cm x 10,8 cm x 1,1 cm, 185 g

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Artikelnummer: 978-3-9824105-2-4 Kategorien: , ,

Beschreibung

Das Buch: Die minderen Existenzen

1938 erstellte der Philosoph Étienne Souriau ein Inventar der verschiedenen Existenzweisen, die die Welt bevölkern. Eine Klasse von Seinsformen zog dabei seine besondere Aufmerksamkeit auf sich: die virtuellen Wesen. Es handelt sich dabei um all jene Potentiale, die die Existenzen begleiten: als zusätzliche Dimensionen ihrer selbst, als das, was sie sein könnten, wenn… Das Problem ist, dass es ihnen an Realität mangelt, als ob es in der realen Welt keinen Platz für sie gäbe.
Wer ihnen zu einer stärkeren Existenz verhelfen und ihnen ›mehr‹ Realität verschaffen will, ist nicht nur ein Schöpfer, sondern auch ein Anwalt. Er kämpft für ihr ›Recht‹, mehr zu existieren, einen rechtmäßigen Platz in dieser Welt einzunehmen.
Ist das nicht das Problem aller Existenzen, sobald ihnen das Recht vorenthalten wird, auf eine bestimmte Art und Weise zu existieren? Diese Frage zieht sich durch David Lapoujades Buch, angesiedelt an der Schnittstelle zwischen den Feldern der Existenz, der Kunst und des Rechts.

Der Autor: David Lapoujade

David Lapoujade, geboren 1964, ist Professor für Philosophie an der Universität Paris-I Panthéon-Sorbonne. Er ist Autor von Deleuze, Les mouvements aberrants (Paris: Minuit, 2014) und weiterer Bücher, u.a über Empirismus und Pragmatismus, über das Werk von William James und Philip K. Dick. Als Herausgeber der posthumen Schriften von Gilles Deleuze (auf Deutsch bei Suhrkamp) hat er zuletzt veröffentlicht: Gilles Deleuze: Sur la peinture. Cours, mars-juin 1981, Paris: Minuit, 2023.

 

Rezension: »Philosophie, wie sie besser nicht sein kann.«

»Es geht darum, wirklich zu existieren.« David Lapoujades lesenswerte Einführung in Étienne Souriaus Ästhetik des Virtuellen, in deren Zentrum »Die verschiedenen Modi der Existenz« stehen. Von Jürgen Nielsen-Sikora, Universität Siegen. Erschienen in: Glanz & Elend, Literatur und Kritik , 13.03.2025.

Auszug:

Die Anapher, in der Sprachwissenschaft das auf etwas oder jemanden zurückweisende Element eines Textes, versteht Souriau als einen Prozess der Intensivierung von Realität: Ich lasse etwas mehr als zuvor existieren, ich verhelfe nicht nur etwas zu seinem Recht auf Existenz, sondern verstärke diese Existenz zudem noch. Dazu prädestiniert ist die Philosophie, die genau dann zur Kunst wird, zu einer Geste, wie Lapoujade schreibt, die ihre Architektonik entfaltet: »Philosophen sind Schöpfer notwendiger Präexistenzen« und Anwälte schwacher Existenzen. Philosophen sind Zeugen, die Zeugnis ablegen für die Existenz des Anderen: »Es geht darum, wirklich zu existieren.« Philosophie, wie sie besser nicht sein kann.

Die vollständige Rezension finden Sie hier:  https://www.glanzundelend.de/Red25/L-M/david_lapoujade_die_minderen_existenzen.htm

Leseprobe (1. Kapitel):

»Eine überzählige Monade?«

Wir schreiben den 21. Februar 1930. Fernando Pessoa, der Mann mit den vielfachen Heteronymen, geht wie jeden Tag durch die Straßen von Lissabon, mit einem Hut auf dem Kopf und einer filigranen Brille auf der Nase. Wie jeden Tag empfindet er Erschöpfung und Überdruss. Er fühlt sich getrennt von der Außenwelt und verspürt die Leere seiner eigenen Existenz. Generell ist er der Ansicht, dass bezüglich seiner Person ein »metaphysischer Irrtum« vorliegt.1 Es ist, als würde er sich selbst als eine überzählige Monade erleben. Im Leibnizschen System haben Monaden bekanntlich weder Türen noch Fenster. Wenn sie keinerlei Öffnung zur Außenwelt benötigen, dann deshalb, weil diese Welt in Form vielfältiger und geordneter Wahrnehmungen in ihnen eingeschlossen ist. Pessoas Problem besteht nun darin, dass er zwar Wahrnehmungen hat, diese ihn aber die Wirklichkeit der Außenwelt ebenso wenig erfahren lassen wie die Wirklichkeit seiner eigenen Existenz. Es ist nicht mehr die Realität, die sich außerhalb befindet, es ist vielmehr er selbst, der sich außerhalb jeder Realität befindet. Er ist wie eine Monade, aber eine weltlose Monade, eingeschlossen hinter Türen und Fenstern. »Zwischen mir und dem Leben ist eine dünne Scheibe. Ich kann das Leben noch so klar sehen und verstehen, ich kann es nicht berühren.«2 Er ist sozusagen der Möglichkeit beraubt, zu existieren, während er gleichzeitig die Last der Existenz zu tragen hat. Wenn es sich hier um einen »metaphysischen Irrtum« handelt, dann deshalb, weil die von Gott geschaffene Welt dieser flottierenden, träumerischen, tatenlosen Monade, die die ohne Verbindung zur realen Welt ist, keinen Platz eingeräumt hat.

Doch anstatt seinen Spaziergang fortzusetzen, bleibt er mitten auf einer Brücke unvermittelt stehen.

»Mit einem Mal, als hätte mich die chirurgische Hand des Schicksals jählings erfolgreich von einer alten Blindheit befreit, sehe ich auf von meinem anonymen Leben zur klaren Erkenntnis meiner Existenz. […] Es ist so schwer zu beschreiben, was man fühlt, wenn man fühlt, daß man wirklich existiert und die Seele eine wirkliche Wesenheit ist; ich weiß nicht, welche menschlichen Worte dies überhaupt könnten. […] Ich selbst war lange ein anderer – seit meiner Geburt und meinem Bewußtwerden –, und jetzt erwache ich mitten auf der Brücke, über den Fluß gebeugt, und weiß, daß ich beständiger existiere als jener andere, der ich bisher war. Doch die Stadt ist mir unbekannt, die Straßen sind mir fremd, und dieses Übel kennt keine Heilung. Und so warte ich, über das Geländer gelehnt, daß die Wahrheit an mir vorübergeht und ich wieder genese zu einem nichtigen, erdachten, denkfähigen und natürlichen Wesen. Es war nur einen Augenblick lang.«3

Was ist geschehen? Plötzlich war die Monade Pessoa von dem Gefühl überwältigt worden, wirklich zu existieren, als wäre sie wieder in die Welt eingeschlossen, in sie eingebettet. »Sich erkennen, plötzlich wie in diesem läuternden Augenblick, heißt eine flüchtige Vorstellung von der inneren Monade zu gewinnen, vom magi­schen Wort der Seele.«4 Sehr schnell kehrt er jedoch zu seinen alten Gewissheiten zurück. Er weiß genau, dass er nicht mit der Entschiedenheit existiert, mit der er es in diesem einen Moment getan hat, dass er nie so existiert hat und nie wieder so existieren wird. Wieder erscheint ihm die Existenz bedeutungslos, unwirklich. Anstatt dass das Denken dem Denker seine Existenz versichert, wie bei Descartes, bestätigt es ihm im Gegenteil, dass er nicht existiert, dass er nicht existieren kann. »Ich bin erstaunt, wie vieles ich war und wie ich nun sehe, was ich letztlich nicht bin.«5 Hier wird deutlich, was denjenigen, die behaupten, nicht zu existieren, entgegengehalten werden kann: dass sie auf jeden Fall existieren, da sie ja da sind, um die Frage zu stellen; dass sie sich also in falsche Probleme verstricken. Sie suchen nach einem Zugang zur Existenz, obwohl sie sich schon direkt in ihr befinden. Das ist die scheinbare Absurdität des Problems: Wie kann man die Realität der Existenz anzweifeln, wenn man doch da ist, in dieser Welt anwesend ist, um sie anzuzweifeln? Aber es ist so, dass wir zwei Begriffe verwechseln: Existenz und Realität. In einer Hinsicht existiert der Mensch tatsächlich, er nimmt eine bestimmte Raum-Zeit ein, er ist unter den Dingen anwesend, er läuft auf der Brücke an Passanten vorbei, er sammelt Eindrücke, Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Doch nichts davon ist vollkommen real. Die Wesen und Dinge existieren, aber es mangelt ihnen an Realität. Was genau bedeutet es, dass es an Realität ›mangelt‹? Was könnte einer Existenz fehlen, um realer zu sein?

Gibt es nicht allerdings Existenzen, die ›realer‹ werden, in dem Sinne, dass sie an Kraft, Ausdehnung und Konsistenz gewinnen: eine Liebe, die sich intensiviert, ein Schmerz, der zunimmt, ein Gewitter, das droht? Oder ein Projekt, das verwirklicht wird, der Bau eines Gebäudes, ein Drehbuch, das auf die Leinwand gebracht wird, die Aufführung einer Partitur? Dies sind verschiedene Arten, an Realität zu gewinnen, eine größere Präsenz, einen lebhafteren Glanz zu erlangen. Diese beiden Reihen von Beispielen sind nicht auf derselben Ebene angesiedelt, aber sie zeugen von ähnlichen Prozessen. In der einen Reihe haben wir es mit Wesen zu tun, die die Reali­tät ihrer Existenz intensivieren, indem sie auf einer Ebene bleiben; in der anderen Reihe haben wir es mit Wesen zu tun, die gezwungen sind, die Ebene der Existenz zu wechseln, um ihre Realität zu steigern. Zunächst möglich oder virtuell, verändern sie ihre Art zu sein, um realer zu werden. In allen Fällen ist das allgemeine Problem dasselbe: Wie kann man das, was existiert, realer machen?

Diese Frage hat der Philosoph Étienne Souriau immer wieder gestellt, sowohl im Bereich der Kunst als auch dem der Philosophie oder der individuellen Existenzen. Wer ist Étienne Souriau (1892-1979)? Obwohl er heute unter anderen Vorzeichen wiederentdeckt wird, ist die Erinnerung an seinen Namen vor allem mit der Kunstphilosophie verbunden geblieben. Bekannt ist manchmal, dass er das umfangreiche Vocabulaire d’esthétique herausgegeben hat, dass er Professor für Ästhetik an der Sorbonne war und lange Zeit die Revue d’esthétique leitete. Weniger bekannt ist, dass er rein philosophische Werke wie Avoir une âme, Essai sur les réalités virtuelles (1938), L’Instauration philosophique (1939), Les Différents modes d’existence (1943) oder auch L’Ombre de Dieu (1955) geschrieben hat.6 Bedeutet dies, dass Souriau später das Interesse an diesen Fragen verlor und sich wieder der eigentlichen Ä­sthetik zuwandte? Dass diese Untersuchungen nach und ­nach aufhörten, für ihn von Bedeutung zu sein, weil sie nicht auf ausreichende Resonanz stießen? Im Gegenteil, auch die Texte, die sich mit Seelen oder Ontologie, mit der Definition von Philosophie, mit Gott oder virtuellen Realitäten befassen, müssen als Teile einer Philosophie der Kunst betrachtet werden. Souriaus gesamtes Denken ist eine Philosophie der Kunst und will nichts anderes sein.

Dies ist eine der grundlegenden Besonderheiten, die die Originalität seines Denkens ausmachen: Die Ästhetik hört auf, eine sekundäre oder dienende Rolle zu spielen, sie ist nicht mehr eine Abteilung oder eine Region der Philosophie, so wie man von der Ästhetik Hegels oder Schellings spricht, sondern die gesamte Philosophie ist einer höheren Ästhetik unterstellt, eine Dimension, die in L’Instauration philosophique mit einer ›Philosophie der Philosophie‹ identifiziert wird. Bevor man von einer Philosophie der Kunst sprechen kann, muss man von einer Kunst der Philosophie sprechen, und das ist nicht rhetorisch gemeint: Man muss eine Kunst annehmen, durch die jede Philosophie sich selbst setzt oder instauriert, bevor sie sich in einem bestimmten Feld betätigt.7 Ebenso gibt es vor jeder Ontologie der Kunst eine Kunst der Ontologie, da es kein Sein ohne Seinsweise gibt. Zugang zum Sein kann man nur über die Weisen haben, in denen es sich gibt. Dies ist das Thema des Buches Les Différents modes d’existence. Die Kunst des Seins ist die unendliche Vielfalt seiner Seinsweisen oder Existenzweisen.8 Ob es sich um Texte über Seelen, Existenzen, Philosophien oder Gott handelt, das Ziel bleibt im Wesentlichen das gleiche. Souriaus Werk ist in dieser Hinsicht von großer Kohärenz. Psychologie, Epistemologie, Ontologie und Philosophie sind die Ressourcen einer tiefgreifenden Philosophie der Kunst.

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Wie lässt sich diese Umkehrung erklären? Um sie zu verstehen, müssen wir von dem ›existenziellen Pluralismus‹ ausgehen, von dem Souriau ausgeht. Die erste Behauptung dieses Pluralismus ist eben, dass es nicht eine einzige Existenzweise für alle Wesen gibt, die die Welt bevölkern, so wenig wie es eine einzige Welt für alle diese Wesen gibt; man erschöpft die Ausdehnung der Welt nicht, »wenn man alles, was existiert, gemäß einer ihrer Weisen durchlaufen hat, zum Beispiel derjenigen der physischen Existenz oder derjenigen der psychischen Existenz« (MDE, 82) durchläuft. Souriau entfaltet und erforscht das gesamte Spektrum der Vielfalt von Existenzweisen, die zwischen dem Sein und dem Nichts liegen. Die Existenzweise von Hamlet ist nicht dieselbe wie die einer Quadratwurzel, die Existenzweise des Elektrons ist nicht dieselbe wie die eines Tisches, usw. Sie alle existieren, aber alle auf ihre eigene Weise. Umgekehrt ist ein Wesen nicht auf eine einzige Existenzweise eingeschworen, sondern kann auf verschiedene Arten existieren, und zwar nicht nur als physische oder psychische Entität; es kann auch als geistige Entität, als Wert, als Vorstellung usw. existieren. Das ist Eddingtons berühmtes Gleichnis von den zwei Tischen: zugleich feste Präsenz und Elektronenwolke. Oder wiederum Hamlet, der als Figur bei Shakespeare, als Auftritt auf der Bühne, als Anspielung in einer Rede, als Filmheld usw. existiert. Ein Wesen kann erleben, dass seine Existenz sich verdoppelt und verdreifacht, kurzum, es kann auf mehreren unterschiedlichen Ebenen existieren, während es numerisch eins bleibt.

Man wird einwenden, dass die Unterscheidung nur eine sprachliche ist, da genau dieses Sein numerisch eins ist. Aber numerisch eins zu sein, Einheit und Beständigkeit nach Art eines Dings zu besitzen, ist eben nur eine von vielen Existenzweisen. Ein Wesen kann an mehreren Ebenen der Existenz teilhaben, als ob es mehreren Welten angehören würde. Ein Individuum existiert in dieser Welt; es existiert als Körper, es existiert als Psyche, es existiert aber auch als Spiegelbild, als Thema, als Idee oder als Erinnerung im Geist eines anderen – all dies sind Möglichkeiten, auf anderen Ebenen zu existieren. In diesem Sinne sind Wesen plurimodale, multimodale Realitäten; und was wir Welt nennen, ist in Wirklichkeit der Ort verschiedener ›Interwelten‹, einer Verschränkung von Ebenen.

Jeder dieser Modi muss als eine Kunst zu existieren betrachtet werden. Das ist der ganze Sinn eines Denkens des Modus als solchem. Der Modus ist keine Existenz, er ist die Art und Weise [manière], ein Wesen auf dieser oder jener Ebene existieren zu lassen. Er ist eine Geste. Jede Existenz entspringt einer Geste, die sie instauriert, eine­r ›Arabeske‹, die sie dazu bestimmt, genau so zu sein. Diese Geste stammt nicht von irgendeinem Schöpfer, sondern ist der Existenz selbst immanent. Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnen ›Modus‹ [mode] und ›Art und Weise‹ [ma­nière] nicht genau das Gleiche. Wenn man die Unterscheidung noch verschärft, könnte man sagen, dass der Modus die Existenz von den Grenzen oder dem Maß der Wesen her denkt (wie das abgeleitete Wort Mäßigung [moderation] bezeugt), während die Manier (von manus, die Hand) die Existenz von der Geste her denkt, von der Form, die die Wesen annehmen, wenn sie erscheinen. Der Modus begrenzt eine Macht des Existierens, während die Manier ihre einzigartige Form, Linie und Krümmung enthüllt und damit von einer ›Kunst‹ zeugt.9

Wenn Souriaus Philosophie eine Philosophie der Kunst ist, dann nicht, weil sie sich für Formen interessiert, sondern weil sie sich für das formale Prinzip interessiert, das die Formen organisiert. Auch hier müssen wir eine Unterscheidung einführen und dürfen die Form nicht mit dem Formalen verwechseln (genauso wenig wie wir formen und formalisieren verwechseln). Die Form ist untrennbar von einer Materie, die sie informiert, deren Umrisse sie zeichnet oder deren Werden sie regelt, insofern sie deren Zweck oder Entelechie ist. Das Formale ist dagegen das, was die Formen organisiert und ihre Beziehungen in architektonischer Weise strukturiert. Allgemein kann man sagen, dass die Form das Prinzip der Organisation von Stoffen ist, während das Formale das Prinzip der Strukturierung von Formen ist.

Dieses formale Prinzip manifestiert sich in dem besonderen Glanz, der die Pracht bestimmter Momente des Daseins ausmacht. Souriau beschreibt gerne diese Momente, in denen sich die Existenzen vollständig erfüllen und eine Architektonik entfalten, die sie in ihrer eigenen Vollkommenheit, in ihrem erhabenen Moment oder ihrer höchsten Stunde darstellt. »Diese ockerfarbenen Berge mit ihren malvenfarbenen Schatten; dieses blaue Meer… Was will man mehr? Diese Symphonie wird nur für sich selbst gespielt… Ist das nicht auch bei jeder Vollkommenheit so? […] Glanzlichter wie diese sind in gewisser Weise die guten Taten des Seins, der reinen Kunst. Dinge an sich, da ihnen nichts mehr fehlt.«10 Es sind nicht nur die guten Taten des Seins als ›reine Kunst‹, es sind alle Existenzen, die einer Kunst des Seins unterstehen, so wie die Philosophie selbst einer höheren Kunst untersteht. Vielleicht wird man annehmen, dass Souriaus existenzieller Pluralismus sein Modell in der Pluralität der Künste (Musik, Architektur, Malerei…) findet. In Wirklichkeit ist es jedoch umgekehrt: Es sind die Künste, die ihre Pluralität aus der Vielfalt der Weisen ableiten, ein Wesen existieren zu lassen, eine Existenz zu fördern oder sie real zu machen.11

Zweifellos kann man alle Arten des Seins auf den gemeinsamen Grund zurückführen, aus dem sie stammen – das Sein – und die Philosophie mit einer Fundamentalontologie identifizieren. Man kann aber auch den umgekehrten Weg gehen: die Vielfalt dieser Seinsweisen um ihrer selbst willen erforschen und die Philosophie zu einer Erforschung der Seinsweisen machen. Es geht nicht mehr darum, die Weisen auf ein Fundament zurückzuführen – oder auf einen Ungrund, der tiefer ist als jeder Grund –,12 sondern darum, die Art und Weise zu untersuchen, in der die Modi sich von diesem Grund abheben, wie sie aus dem Sein hervorgehen »wie die Spitze des Schwertes aus dem Schwert hervorgeht«.13 Manchmal handelt es sich bei den Arten und Weisen [manières] um Arten und Weisen des Seins, die auf eine Fundamentalontologie verweisen; manchmal handelt es sich um Arten und Weisen des Seins, die auf eine modale oder manieristische Ontologie verweisen.

Was Souriau von jeglicher Fundamentalontologie fernhält, ist, dass er darin eine Vorliebe für die falsche Fülle des Unbestimmten [báthos] sieht, eine Fülle, die »den Eindruck erweckt, das ganze Leben mit einer ungeheuren Bereicherung aufzublähen«, die aber in Wirklichkeit illusorisch ist. Es ist eine Welt »nicht nur der Dunkelheit, sondern auch der Unbestimmtheit und des Nichts, durch die sich Entwürfe formal abzeichnen, aber auch verwischen und überlagern«. (AA, 42) Souriau interessiert sich nicht für diesen undeutlichen Hintergrund, sondern für die Modi, die von ihm ausgehend entworfen werden, die allmählich ihre Realität erobern, im selben Maße, in dem sie sich präzisieren und an Bestimmtheit gewinnen. Die meisten dieser Modi bleiben im Zustand von Skizzen oder Entwürfen; sie schaffen es nicht, sich von der unterscheidungslosen Basis, in die sie zurückfallen, zu unterscheiden. Aber andere steigen durch eine Intensivierung ihrer Realität zu ihrem Gipfel auf. Sie gewinnen an Präzision, an ›Luzidität‹, bis sie ihren höchsten Punkt erreicht haben. Sie sind wie Realitätsschübe. Nur solche Gipfel interessieren Souriau; er geht sogar so weit, sich die Idee einer universellen Vollendung vorzustellen, »ein Universum, das peripher an allen seinen Punkten die Zone der integralen Erfüllung und des luziden Glanzes des Seins erreicht hat«. (AA, 43)

Souriaus Hauptwerke untersuchen jeweils eine bestimmte Pluralität: Pluralität der Seelen in Avoir une âme, Pluralität der Existenzweisen in Les Différents modes d’existence, Pluralität der ›Philosopheme‹ oder der philosophischen Systeme in L’Instauration philosophique. Souriau geht jedes Mal von einem Pluriversum aus, das eine Pluralität der Künste des Existierens erfordert, und nicht von einem Universum oder einem sinnlichen Diversum, das das Ausgangsmaterial für eine einzige Kunst (im Allgemeinen die Kunst, Objekte der Erkenntnis zu schaffen) bilden würde.14 Man könnte glauben, dass es sich darum handelt, eine Klassifizierung vorzuschlagen oder die Elemente dieser Pluralitäten zu katalogisieren, und Souriau drückt sich manchmal so aus, als ob dies der Fall wäre. So unterscheidet Souriau in Avoir une âme zwischen Seelen, die durch Vorstellung existieren (die Vorstellung, die wir uns von anderen machen, wenn wir ihnen eine Seele leihen, oder die Vorstellung, die wir uns von uns selbst machen, je nachdem, welche Vorstellung wir anderen von uns selbst geben), Seelen, die durch Anmaßung existieren (der Wunsch nach einer Vergrößerung des Selbst), Seelen, die durch Illusion existieren (der Traum von einer Existenz, die sich nicht verwirklicht) oder Seelen, die durch Besitz existieren (Selbstbesitz als Selbstverwirklichung oder der Besitz eines anderen durch Vereinnahmung), usw. Und zweifellos kann eine einzige Seele mehrere dieser Modi durchlaufen, gleichsam als innere Revolutionen oder intensive Variationen, die aus ihr ein transmodales Wesen machen.

In ähnlicher Weise unterscheidet Souriau in Les Différents modes d’existence zwischen verschiedenen Existenzmodi, von der strahlenden Präsenz des Phänomens bis hin zu nicht existierenden oder virtuellen Wesen als ebenso vielen ›Elementen‹ oder ›existentiellen Semantiken‹. Auch hier wird alles im Hinblick auf eine grundlegende Kunst des Existierens beschrieben. Das Phänomen hat eine eigene Art, sich in seiner eigenen Vollkommenheit darzustellen, eine Art, sich selbst offenbar zu machen, die seine Kunst des Existierens darstellt. »Diese Kunst ist das Gesetz des Glanzes des Phänomens, die Seele seiner Anwesenheit und seine existenzielle Offenkundigkeit [patuité]«, sagt Souriau (MDE, 118).15 Seine Kunst manifestiert sich in der augenblicklichen Architektonik, die es in der Erhabenheit eines Augenblicks entfaltet. Es gibt eine ›Seele‹ des Phänomens, die wie seine Signatur oder sein eigener Tonfall ist, so wie man von der Seele einer Landschaft spricht. Ganz anders ist die Seinsweise der ›Dinge‹, die die Welt mit ihrer festen und dauerhaften Präsenz bevölkern. Aber es gibt noch andere Modi, die der imaginären Wesen, die der fiktiven Wesen, deren Typen zu gegebener Zeit untersucht werden müssen. Im Allgemeinen sind Existenzweisen Besetzungen von Raum und Zeit, aber unter der Bedingung, dass jede Existenzweise die von ihr besetzte Raum-Zeit erschafft. Die Raum-Zeit von Phänomenen ist nicht dieselbe wie die von Dingen, und die von Dingen ist nicht dieselbe wie die von imaginären Wesen usw.

Ebenso konstruiert L’Instauration philosophique einen riesigen Kosmos, in dem die Gesamtheit der Philosophien koexistiert. Die Geschichte der Philosophie als Himmelskarte oder Planetarium, die Entfaltung einer Konstellation von Welten, die sich aufgrund der Erkundungen des Denkens selbst immer weiter voneinander entfernen. All diese Welten bilden eine seltsame Monadologie divergierender Perspektiven.16 »Man muss von Anfang an die Pluralität der Philosopheme anerkennen, d. h. die Vielfalt und den tatsächlichen Unterschied der Versuche des menschlichen Geistes, die Welt philosophisch zu informieren. Man muss feststellen, dass der Kosmos virtuell eine große Anzahl gleichwertiger Lösungen für das Problem seiner Information enthält.« (IP, 214) Die Geschichte der Philosophie wird weder durch ein Schicksal noch durch einen Fortschritt vereinheitlicht; sie stellt sich vielmehr als ein ›Pleroma‹ dar, d. h. als eine Welt, deren Fülle ständig um neue Entitäten bereichert wird, in dem Maße, in dem neue Systeme als ebenso viele unterschiedliche philosophische ›Gesten‹ geschaffen werden.17 Die Koexistenz ist jedoch keineswegs friedlich oder gleichgültig, denn es ist allgemein bekannt, dass ein Philosoph keine neuen Entitäten einführt, ohne gleichzeitig die Begründetheit von Entitäten aus anderen Systemen zu kritisieren.

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Was ist der Sinn dieser Klassifizierungen? Welches Ziel verfolgt Souriau mit diesen vielfältigen philosophischen Bestandsaufnahmen? Wir sagten, er wolle die Vielfalt der Existenzweisen zwischen Sein und Nichts erforschen, die Skala der Existenzen vom flüchtigen Glanz des Phänomens bis zur unsicheren Existenz virtueller Realitäten durchlaufen. Es gibt ganze Populationen von Wesen, die sich den klassischen Alternativen entziehen, ›besondere Anwesenheiten‹, die zwischen Sein und Nichts, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Möglichem und Realem, zwischen Ich und Nicht-Ich angesiedelt sind.18 »Wird die Erkenntnis der Wahrheit ganze Populationen von Wesen opfern müssen, die ausgeschlossen sind aus der gesamten existenziellen Positivität […]?« (MDE, 86) Es scheint, dass Souriau sich besonders für diese Populationen interessiert. Es scheint, als wolle er durch diese Bestandsaufnahmen die Vielfalt der Existenzformen, die die Welt bevölkern, vor der Zerstörung retten, darunter auch die zerbrechlichsten, flüchtigsten und zugleich spirituellsten Formen.

Souriau will sich zum Anwalt dieser Existenzweisen machen. Die Figur des Anwalts ist jedoch nicht anekdotisch, sondern spukt in seinen Büchern als eine jener ›Begriffspersonen‹ herum, wie sie von Deleuze und Guattari definiert wurden. Als Deleuze und Guattari diesen Begriff schufen, beriefen sie sich auf relationale, dynamische oder existentielle Kennzeichen, aber auch und vor allem auf juridische Merkmale.19 Zahlreich sind die Porträts des Philosophen als Ermittler, Gesetzgeber oder Richter, der stets in laufende Fälle verstrickt ist. Man könnte erwarten, dass bei Souriau die juridischen Züge zugunsten von ›ästhetischen‹ oder existenziellen Zügen zurücktreten, doch meist ist das Gegenteil der Fall. Hinter den ästhetischen Figuren treten Charaktere hervor, die der Sphäre des Rechts zuzuordnen sind.

So zeichnet sich zum Beispiel hinter dem wahrnehmenden Subjekt die Figur des Zeugen ab. Denn für Souriau ist die ästhetische Wahrnehmung niemals neutral oder uneigennützig, im Gegenteil. Bestimmte privilegierte Wahrnehmungen wecken das Verlangen, ›zugunsten‹ der Bedeutung oder der Schönheit dessen, was sie gesehen haben, Zeugnis abzulegen. In diesem Fall bedeutet Wahrnehmen nicht nur, das Wahrgenommene zu erfassen, sondern auch, seinen Wert bezeugen oder bezeugen zu wollen. Der Zeuge ist niemals neutral oder unparteiisch. Ihm fällt die Verantwortung zu, das, was er sehen, fühlen oder denken durfte, zu zeigen [faire voir]. Das macht ihn zum Schöpfer. Er wird vom wahrnehmenden Subjekt (sehen) zum schaffenden Subjekt (sehen lassen). Das liegt daran, dass hinter dem Zeugen eine andere Figur zum Vorschein kommt, nämlich die des Anwalts. Er ist es, der den Zeugen auftreten lässt, der dafür sorgt, dass jede Schöpfung zu einem Plädoyer für die Existenzen wird, die sie zum Vorschein bringt oder vielmehr auftreten lässt. Man muss dem, was man als privilegierter Zeuge erlebt hat, eine Kraft, ein Ausmaß verleihen. Deswegen sind Künstler und Philosophen, unabhängig von der Rolle, die sie sich ansonsten geben, gleichzeitig Anwälte, deren verschiedene Systeme für die neuen Entitäten plädieren, die sie instaurieren und deren Legitimität sie begründen wollen. Sie lassen neue Entitäten existieren und neue Realitäten entstehen, wo niemand zuvor etwas gesehen oder erdacht hat: Platons Idee, Aristoteles’ Substanz, Descartes’ Cogito, Leibniz’ Monade und so weiter. Wie sollten sie nicht zu Anwälten dieser Realitäten werden, da sie die Skepsis, die Einwände oder die Verachtung, die mit ihrer In­stauration einhergehen, überwinden müssen?

Letztendlich ist Souriaus Philosophie vielleicht ebenso sehr eine Philosophie des Rechts wie eine Philosophie der Kunst. Vielleicht steht die Kunst sogar ganz im Dienst des Rechts. Wenn man bestimmte Existenzen ›realer‹ macht, ihnen eine besondere Grundlage oder einen besonderen Glanz verleiht, ist das nicht eine Art und Weise, ihre Art zu sein zu legitimieren, ihnen das Recht zu verleihen, in dieser oder jener Form zu existieren? Dies setzt voraus, dass jeder neuen Existenzform eine Frage vorausgeht, die im Verborgenen ihre Realität untergräbt: quid juris? Mit welchem Recht behaupten Sie, zu existieren? Was legitimiert Ihre ›Position‹ der Existenz? Jede neue philosophische Einheit, aber auch jede Form der Existenz, ob künstlerisch, wissenschaftlich oder existenziell, muss ihre Begründetheit unter Beweis stellen. Um sich als solche zu ›setzen‹, müssen auch sie den Zweifel, die Skepsis oder die Verleugnung besiegen, die ihnen das Recht zu existieren streitig macht.

Wenn eine Existenz ihre Begründetheit beweisen muss, bedeutet das dann nicht, dass sie von einem festen Grund [fondement] abhängt, der ihr diese Berechtigung verleiht? Die Kunst würde dann zur Kunst des Begründens werden (und die Definition der Philosophie würde sich mit der Platons decken). Jede Existenz, die an sich ungerechtfertigt ist, würde ihren Sinn, ihre Wahrheit und ihre Realität von einer höheren Grundlage erhalten, so wie ein ›Bevollmächtigter‹ seine Vollmachten von einer gesetzlichen Autorität erhält. Einmal begründet, würde die Existenz »lose Erde und Sand beiseitewerfen, um Fels oder Ton zu finden«.20 Das Fundament gibt nicht nur einen Halt oder einen Boden, sondern verleiht den Existenz­weisen, die es begründet, Legitimität. Eine seltsame Transformation, bei der eine Existenz allein durch die Tatsache, dass sie legitimiert wird, eine neue Rea­lität erlangt. Sie ist voll existent und hat festen Boden unter den Füßen.

Was aber geschieht, wenn das Fundament jegliche Autorität und Legitimität verliert? Oder wenn es die Existenzen mit seiner Autorität erdrückt und ihnen die Realität nimmt? Müssen sich die Existenzen dann nicht selbst die Realität erobern, die ihnen fehlt? Das ist das ganze Problem. Wie kann eine Existenz aus sich selbst heraus ihre Legitimität erobern? Befinden wir uns dann vielleicht in der Situation Kafkas, der in »jedem Augenblick eine neue Bestätigung [seines] Daseins« braucht?21 Woher soll diese Bestätigung kommen, wenn einem jedes Recht auf Existenz abgesprochen wird? Was bleibt einem Wesen, wenn seine Existenzberechtigung bestritten wird? Welchen Raum und welche Zeit kann es noch rechtmäßig einnehmen? »Ich habe nur meine Promenaden zu machen, und damit soll es genug sein, dafür gibt es aber noch keinen Ort in der Welt, auf dem ich nicht meine Promenaden machen könnte.«22 Es gibt kein Land, keinen Boden mehr, auf den man seinen Fuß setzen könnte.

Wo findet man in sich selbst die Ressourcen, um diese oder jene singuläre Existenzweise zu legitimieren? Wie kann man Existenzen realer machen? Vielleicht müssen Existenzen andere Existenzen durchlaufen, um sich selbst zu setzen oder zu konsolidieren, und umgekehrt. Man existiert nicht aus sich selbst heraus; man existiert nur dann wirklich, wenn man etwas anderes zum Existieren bringt. Jede Existenz braucht Verstärker [intensificateurs], um ihre Realität zu steigern. Ein Wesen kann sich das Recht zu existieren nicht ohne die Hilfe eines anderen erobern, das es zum Existieren bringt. Ist das die Rolle des Anwalts, die Realität von Existenzen zu verstärken? Für neue Rechte zu kämpfen? Das ist eine Frage des Rechts, aber mehr denn je eine Frage der Kunst: Durch welche ›Gesten‹ der Instaura­tion gelingt es den Existenzen, sich legitim als solche zu ›setzen‹?

1 Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt (M.): Fischer, 2006, S. 112: »Das Leben erscheint mir als ein metaphysischer Irrtum der Materie, ein Versehen der Untätigkeit.«

2 Ebd., S. 91.

3 Ebd., S. 46 f.

4 Ebd., S. 48.

5 Ebd., S. 46. Vgl. die Bemerkung Souriaus in: Étienne Souriau: »La conscience«, Quaderni della ›Biblioteca filo­s­ofica di Torino‹, Jg. 1966, N° Vol. 17, 4, S. 574: »Welcher Mensch, der nur ein Mensch ist, wird es wagen zu behaupten, dass er auf eine solche Weise denkt und somit eine unzweifelhafte Existenz besitzt? Das ist der Fehler von Descartes.«

6 Für eine umfassendere Bibliografie der Werke von Étienne Souriau, vgl. Denis Huisman (Hg.): Dictionnaire des philosophes. 2. revid. Auflage, Paris: Presses Universi­taires de France, 1993.

7 In IP, S. 147 f., definiert Souriau die Philosophie als »reine Kunst des Denkens« und sucht nach dem, »was in den philosophischen Werken der letzten dreißig Jahre sie eher mit Debussy oder Ravel, mit Monet und Manet oder mit Derain, Vlaminck und Matisse, mit Horta und Otto Wagner oder mit Bruno Taut und Le Corbusier und so weiter verbindet«. Siehe auch den Artikel »Art et philosophie«, Revue philosophique de la France et de l’Étranger, N° Bd. 144, 1954, S. 1-2, wo Souriau eine explizite Ästhetik anführt, als »Unterabteilung« einer impliziten Philosophie und Ästhetik, die die Architektonik des philosophischen Werks in der Tiefe durchzieht. »Vergessen wir nicht, dass die Kunst eine echte ontologische Erfahrung ist: eine Erkundung der Wege, die zu einem Kosmos führen, vom Nichts bis zur Vollendung in ihrer Offenbarkeit [patuité].« (S. 15).

8 Vgl. MDE, 163: »Die Existenz, das sind alle Existenzen; das ist jeder Modus des Existierens. In allen, in jedem einzelnen für sich genommen residiert und erfüllt sich die Existenz in vollem Umfang.« Dieser Satz ist ein Echo auf einen anderen, MDE, 111: »Denn die Kunst, das sind alle Künste. Und die Existenz, das ist jeder einzelne der Modi der Existenz. Jeder Modus ist für sich allein eine Kunst des Existierens.«

9 IP, 367: »Existieren bedeutet immer, auf irgendeine Weise zu existieren. Eine Art zu existieren entdeckt zu haben, eine besondere, singuläre, neue und originelle Art zu existieren, bedeutet, auf seine Weise zu existieren.«

10 AA, S. 94 und S. 113 f.: »Man müsste diese klaren Punkte, diese reinen Lichtblitze, ein wenig wie Gipfel in der Morgendämmerung betrachten […]; Gipfel, die eine rosa Glasur in einer Bergregion in der erhabenen Stunde hier und da aufscheinen lässt. Aber man müsste diese rosa Glasur als eine Art eigene Erleuchtung betrachten, als Alpenglühen [im Original deutsch], als ein Pulsieren des Lichts, das die direkte Realität wäre, und durch das diese Gipfel nicht aus dem Schatten geholt würden, in dem sie schläfrig existieren würden, sondern durch das sie gesetzt und instauriert würden. Denn dieser Glanz wäre ihr eigentliches Sein.«

11 In einigen Texten scheint Souriau seinen existenziellen Pluralismus nach dem Modell der Vielfalt der Künste zu konzipieren (siehe z. B. MDE, 160), korrigiert sich dann aber, um zu zeigen, dass es eine tiefere Kunst gibt. Vgl. MDE, 161: »Und es erschiene plausibel, sie aufseiten von etwas zu suchen, das eher an der Kunst teilhat als an allen anderen errichtenden Wegen, die dazu geeignet wären, irgendein Modell von ihr zu liefern – unter der Bedingung, die Kunst ziemlich auszuweiten und sie in ihrem reinen Prinzip aufzufassen –, aufseiten einer gemeinsamen oder reinen Kunst, zu existieren, die diesen verschiedenen Künsten, zu existieren, von denen man irgendeine tatsächlich wählen und praktizieren muss, um Existenz zu erlangen, gemeinsam ist.«

12 Vgl. Martin Heidegger: Der Satz vom Grund. Gesamtausgabe 1. Abteilung, Band 10, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt (M.): Klostermann, 1997, S. 76 f.: »Im Sinne solchen Ab-bleibens des Grundes vom Sein ›ist‹ das Sein der Ab-Grund. Insofern das Sein als solches in sich gründend ist, bleibt es selbst grundlos.«

13 Souriau, »La conscience«, S. 577. Er entlehnt den Ausdruck von dem Philosophen Jules de Strada. Vgl. Jules Delarue de Strada: Essai d’un ultimum organum ou constitution scientifique de la méthode, Paris: Hachette & Cie, 1865, S. 288.

14 Zum Begriff des ›Pluriversums‹ vgl. William James: Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, hg. v. Klaus Schubert u. Axel Spree, Hamburg: Meiner, 2016, vierte Vorlesung.

15 Der Begriff »patuité«, den Souriau ebenfalls dem Ulti­mum Organum (op. cit.) des Philosophen Jules de Strada (1821-1902) entlehnt, bezeichnet die Tatsache, offenbar zu sein, die »Qualität des Offenbarseins durch das, was es ist«. Souriau greift auch auf die lateinische Formel patefit zurück, die nicht mehr die Eigenschaft, sondern das Ereignis, offenbar zu sein, bezeichnet.

16 Souriau beruft sich auf eine »Monadologie der Philosopheme« (IP, 267). Zur Divergenz, vgl. IP, S. 214: »Man muss sich mit der Divergenz der Philosophien abfinden, die sich in dem Maße voneinander entfernen, wie sie ihre Welt […] zu ihrer Vollkommenheit der Bestimmung und der Existenz treiben. Durch kein Postulat kann man diese Divergenz beseitigen, weil sie im philosophischen Denken real vorhanden ist.«

17 Vgl. IP, 63: »Diese Geste, die all diese Reflexionen oder all diese Akte in einer getrennten und ganz geistigen Welt herbeiführt, wiederherstellt und konstituiert, die sie am Ende getrennt ins Sein versetzt, das ist die philosophische Geste par excellence.« (Siehe auch IP, S. 229, S. 235 ff.).

18 Vgl. AA, S. 86: »Die Ressource, die sich anbietet, besteht darin, das Problem […] im Bereich gewisser besonderer Anwesenheiten zu untersuchen, die einerseits sicher nichts Objektivem entsprechen, die andererseits nur unter der Voraussetzung auf dem Konto der Seele erscheinen, dass sie organisierter und bestimmter sind, als es ihre erste subjektive Anwesenheit ist, die nur vage aus einem kaum umrissenen Entwurf bestand, geschärft durch eine mehr oder weniger rätselhafte Intentionalität […].«

19 Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt (M.): Suhrkamp, 2018, S. 85 ff. [Der von Deleuze und Guattari gebrauchte Begriff »intercesseur« wird in der von Bernd Schwibs und Joseph Vogl erstellten Übersetzung mit »Fürsprecher« wiedergegeben, Anm. d. Ü.].

20 René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Discours de la méthode, Französisch – Deutsch, Hamburg: Meiner, 1990, S. 47.

21 Franz Kafka: »Brief an den Vater«, in: ders.: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt (M.): Fischer, 1976, 119–162, S. 149.

22 Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt (M.): Fischer, 1976, S. 19.

Zusätzliche Informationen

Gewicht 185 g
Größe 21 × 10,8 × 1,1 cm